Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben

An diesen Gorbatschow-Satz musste ich denken, als ich von der WELT erfahren habe, dass Olaf Scholz davor gewarnt habe, Deutschland in eine Krise hineinzureden.

Nein, das war nicht vor zehn oder noch mehr Jahren. Das war gerade eben, in einem Interview für die WELT am Sonntag, das morgen in der Druckausgabe erscheint, aber schon im Premium-Abo zu finden ist.

Hätte Olaf Scholz davor gewarnt, die Krise noch länger schönzureden, sondern stattdessen damit begonnen, die nackten Fakten ohne weiteres Zögern auf den Tisch zu legen und pragmatische Lösungen anzustreben, dann hätte ich gedacht: “Aha! Unser Kanzler! Jetzt hat er begriffen, dass es ernst ist.”

Jetzt hat er begriffen, was Deutschland schadet, was das Land in die Rezession und in die Inflation getrieben hat. Jetzt hat er begriffen, wie es zur Wohnungsnot gekommen ist, warum Bund, Länder und Kommunen allesamt vor gähnenden haushaltspolitischen Abgründen stehen, warum Fachkräftemangel und Arbeitslosigkeit gleichzeitig in diesem Land existieren können, warum es den Pflegenotstand, den Notstand bei den KiTa-Plätzen und eine sich verstärkende Bildungsmisere gibt.

Aber nein. Es gibt keine Krise, sagt der Kanzler.

Die deutsche Wirtschaft “erlebt” zwar eine Wachstumsschwäche. Ansonsten läuft es doch gut.
Die deutsche Wirtschaft leidet unter der Nachfrageschwäche Chinas. Ansonsten läuft es doch gut.
Die deutsche Wirtschaft schwächelt wegen der hohen Inflation und den gestiegenen Energiepreisen. Ansonsten läuft es doch gut.

Das ist alles alleine dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands geschuldet. Ansonten läuft es doch gut.

Es gäbe doch viele gute Botschaften, sagt der Kanzler. Es werden Batteriefabriken gebaut. Es wird massiv in die Elektromobilität investiert. Es entstehen neue Halbleiterfabriken, und dabei entstehen “neue moderne und gut bezahlte Industrie-Arbeitsplätze”.

Dass VW-Markenchef Thomas Schäfer den Ernst der Lage vor einigen Wochen schon nur noch mit der dramatischen Formulierung: „Der Dachstuhl brennt!“ auszudrücken vermochte und einen sofortigen Ausgabenstopp verhängen musste, weil die elektrischen Modelle einfach keine Käufer finden und sich bei den Händlern stapeln, das muss an Olaf Scholz vorbeigegangen sein. Davon, dass in diesen Tagen über das Schicksal von rund 11.000 VW-Beschäftigten in Zwickau entschieden wird, wo VW ausschließlich “Stromer” baut, hat ihm offenbar sein Wirtschaftsminister, der es wissen müsste, auch nicht verraten. Dass mit diesem Dilemma auch die Investitionen in Batteriefabriken noch fragwürdiger werden als sie sowieso schon waren, weil nach wie vor niemand weiß, wo der Strom herkommen soll, mit dem sie geladen werden müssten, um einen Sinn zu ergeben, ist etwas schwieriger zu erkennen. Dazu müsste man eins und eins zusammenzählen wollen, aber der Bundeskanzler hätte die Pflicht, zumindest darüber nachzudenken. Und, dass viele Milliarden deutscher Steuergelder ausgegeben werden, um ausländischen Investoren die Chipfabriken zu finanzieren, die sie hierzulande bauen wollen – ohne Garantie, dass diese Chips dann auch deutschen Unternehmen verkauft werden, ist entweder ein Zeichen der nackten Not oder doch ein Zeichen einer ungesunden Mischung aus Sorg- und Hilflosigkeit.

Vermutlich hat sich Olaf Scholz daran erinnert, irgendwann von einem Ökonomen gehört zu haben, Wirtschaft sei mindestens zur Hälfte Psychologie, und wollte daher Mut machen.

Doch alles hat seine Zeit. Mut machen auch. Olaf Scholz hat diesen Zeitpunkt versäumt. Vermutlich war es schon zu spät als er als Bundeskanzler vereidigt wurde. Seitdem ist es allerdings nur immer noch später geworden.

Wie und womit “das Leben”, von dem Gorbatschow sprach, im speziellen Fall reagieren wird, liegt im Bereich der Spekulation. Die DDR-Führung hat erleben müssen, dass dieses Leben schnell, hart und gründlich reagieren kann.